

Verhalten
als Ausdruck innerer Not
Was wir unter „Verhaltensstörungen“ verstehen –
und warum sie nicht einfach wegtrainiert werden können
Manche Hunde zeigen Verhaltensweisen, die tief unter die Haut gehen.
Sie wirken „komisch“, „seltsam“ oder „übertrieben“. Und viel zu oft werden sie lange nicht ernst genommen. Dabei steckt hinter vielen dieser Verhaltensweisen eines: eine innere Notlage. Sie kratzen sich wund. Kreisen ununterbrochen. Jagen unsichtbare Fliegen. Saugen Stoffe ein. Beißen in die eigene Rute.
All das ist kein „unerzogener Hund“. Es ist ein Hund, der leidet – und nicht anders mit seinem Stress oder seiner Überforderung umgehen kann.
Was genau ist eine Verhaltensstörung?
Eine Verhaltensstörung liegt dann vor, wenn:
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ein Verhalten in Häufigkeit, Dauer oder Intensität deutlich vom rassetypischen Verhalten abweicht
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dieses Verhalten nicht von selbst reguliert werden kann
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es dem Hund dauerhaft schadet (körperlich oder seelisch)
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keine gesunde Coping-Strategie mehr zur Verfügung steht
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der Hund nicht mehr in der Lage ist, sein Verhalten anzupassen oder zu lernen
Mit anderen Worten: Das Verhalten ist nicht einfach ein Problem, sondern Ausdruck eines Problems. Und dieses Problem sitzt tiefer.
Coping – was bedeutet das?
Coping bezeichnet die Fähigkeit, mit Stress oder Belastung umzugehen – sei es auf problemorientierte oder emotionale Weise. Wenn Hunde keine funktionale Copingstrategie entwickeln können, weichen sie oft auf Stereotypien oder zwanghaftes Verhalten aus.
Diese Verhaltensweisen wirken nach außen oft sinnlos, sind aber innerlich selbstbelohnend, weil sie z. B. zur Ausschüttung von Endorphinen führen. Das Tier beruhigt sich dadurch kurzfristig – der Stress aber bleibt. Der Weg von einem Coping-Verhalten hin zur Stereotypie ist ein schleichender Prozess – und oft kaum noch umkehrbar.
Formen von Verhaltensstörungen – was wir beobachten können
🐾 Verhalten aus der Körperpflege
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exzessives Lecken (z. B. Leck-Granulome)
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Kratzen bis zur Verletzung
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Lecken von Gegenständen
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Selbstverletzung (z. B. an Pfoten oder Flanke)
🧠 Halluzinatorisches Verhalten
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Fliegenschnappen ohne Fliegen
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Fixieren „unsichtbarer“ Objekte
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Auf imaginäre Beute stürzen
🍽️ Störungen im Fressverhalten
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Polyphagie (gesteigerte Nahrungsaufnahme)
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Allotriophagie (Fressen von Dreck, Sand, Stoff)
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Polydipsie (übermäßiger Durst)
🌀 Lokomotorische Stereotypien
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Kreisen
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Hin- und Herlaufen am Zaun (Hospitalismus)
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Graben, Erstarren, Hochspringen „auf der Stelle“
🔊 Vocalisieren & neurotisches Verhalten
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sich selbst anbellen oder anknurren
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rhythmisches Dauerbellen
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in eigene Rute oder Füße beißen
Diese Symptome sollten niemals als bloße Marotten abgetan werden – sie sind Ausdruck tiefgreifender Regulationsstörungen.
Warum entsteht so etwas?
Die Gründe, warum ein Hund eine Verhaltensstörung entwickelt, sind vielschichtig.
Und: Nicht alles davon ist „wegtrainierbar“.
Folgende Ursachen sind aus fachlicher Sicht möglich:
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Organisch: Ethopathien, haltungsbedingte Erkrankungen
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Neurobiologisch: Störungen im Neurotransmitter-Haushalt
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Entwicklung: mangelnde Sozialisation (Deprivation), fehlerhafte Habituation
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Erlernt: Fehlkonditionierung, Lernen am Modell
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Genetisch: Rasseveranlagung, z. B. autoaggressive Syndrome
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Traumachronischer Stress, Überforderung, unverarbeitete Erlebnisse
Viele dieser Ursachen führen dazu, dass gesunde Anpassungsmechanismen nicht mehr greifen. Stattdessen entwickelt der Hund stereotype, zwanghafte oder gar selbstschädigende Verhaltensweisen.
Was das für dich als Halter:in bedeutet
Nicht jeder Hund kann durch Training „umprogrammiert“ werden.Und manchmal bedeutet es auch: anzuerkennen, dass Verhalten Ausdruck einer Erkrankung ist – nicht ein „Fehler“, den man korrigieren muss.
Bei solchen schweren Verhaltens- oder Zwangsstörungen ist die Zusammenarbeit mit einem Tierarzt unerlässlich!
Manche Hunde brauchen keine Erziehung – sie brauchen Entlastung. Struktur. Schutz. Und Mitgefühl.